Hundert Tage nach Fukushima: Der Philosoph Kenichi Mishima erklärt Regierungsterror, Besserwisserei, Resignation - und warum japanische Angst anders ist als deutsche
Wir treffen uns in einem Hotelcafé im Tokioter Stadtteil Shibuya und erkennen einander, ohne uns je begegnet zu sein. Kenichi Mishimas Bescheidenheit kann verlegen machen. Der japanische Sozialphilosoph und Übersetzer von Adorno, Gadamer, Habermas ist nie zufrieden mit sich - noch nicht einmal mit seinem gepflegten Deutsch. Als er die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin entgegennahm, hielt er "Eine unbeholfene Dankesrede". Knapp einen Monat vor Beben, Tsunami und Kernschmelze in Fukushima sprach Mishima den seherischen Satz über die Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan: "Von unseren zuständigen Behörden stets als Protest aus Unwissen abgetan, haben sich die laienhaften Sorgen immer wieder - natürlich nicht immer - als korrekter erwiesen." Als Mishima diese Stelle erwähnt, scheint der Achtundsechzigjährige für einen Augenblick zufrieden mit sich.
Die WELT: Auf einer Reise durch die zerstörte Küstenregion fiel uns auf, dass die Menschen zwar Vertrauen in sich haben, sich aber von Verwaltung und Politik wenig erhoffen. Das wurde fast ohne jeden Vorwurf geäußert. Was ist Ihre Erklärung?
Kenishi Michima: Das war immer die Mentalität der Menschen auf dem Land und in den unteren Schichten: Sie erwarten nichts vom Staat. Sie glauben oft mit Recht, dass sich letzten Endes der Staat um sie nicht kümmern wird. Eine gewisse Resignation spielt eine Rolle. Und: Vor dem Beben waren sie selber Klientel für die Politik. Sie haben ihre Abgeordneten dazu gebracht, in jedem kleinen Küstenort einen gut ausgebauten Hafen zu finanzieren, was totale Geldverschwendung war. Die Menschen dort sind zwar gutmütig, tapfer und erfindungsreich, sie haben Phantasie. Aber als Sozialphilosoph muss ich schon sehen, wie sehr sie in Strukturen eingebunden sind, die sie selber stützen, die sie aber auch fesseln.
Die WELT: Die Evakuierten von Fukushima, die dreifach getroffen wurden von Beben, Tsunami und Radioaktivität, empfinden Zorn und Verbitterung: Ihr größtes Elend ist, wenigstens zum Teil, vom Menschen gemacht. In den übrigen Küstenregionen haben wir die Gefasstheit angesichts eines göttlichen Schicksalsschlags gespürt.
Kenishi Michima: Beben und Tsunami haben sich ja beinahe alle fünfzig Jahre wiederholt, zuletzt beim Großen Sanriku-Beben von 1933. Natürlich kann man beklagen, dass nach 1933 alles städtebaulich schlecht geplant wieder aufgebaut wurde. Wieder wurden Dörfer direkt am Meer angesiedelt. Aber es gab damals nicht so viele Transportmittel und für die Fischer war es angenehmer, direkt am Strand zu wohnen. Eine gewisse Schicksalsergebenheit ist da. Man wusste, dass ein großes Erdbeben kommt, trotzdem blieben sie dort, wo Generationen vor ihnen schon mit demselben Wissen geblieben waren. Im Nachhinein sind wir alle klüger.
Die WELT: Immerhin wurden Japans Streitkräfte viel schneller mobilisiert als nach dem Erdbeben von Kobe 1995. Damals kostete das Zögern über Tage wohl hunderten, vielleicht tausenden Verschütteten das Leben. Es heißt, auch weil das Ressentiment gegen Japans Soldaten so stark war.
Kenishi Michima: Ja, man muss Premierminister Naoto Kan, den viel kritisierten, dafür loben, dass er rasch den Einsatz befahl. Innerhalb von einem Tag wurde 30,000 Man mobilisiert Die Zahl wurde rasch auf 100.000 Mann angehoben. Das war eine schnelle und effektive Entscheidung. Die traditionelle Antipathie gegen das Militär hat diesmal nicht gewirkt. Doch dieses Verdienst von Kan ist schnell vergessen worden. Kan wird jetzt im Zuge vom parteipolitischen Gerangel immer mehr kritisiert für sein angeblich schlechtes Krisenmanagement. Und dann hat die Opposition, unterstützt von der Anti-Kann-Gruppe innerhalb der Regierungspartei noch ein Misstrauensvotum eingereicht, das dann gescheitert ist. So etwas ist verrückt. Die Parteien hätten eigentlich eine Art Waffenstillstand vereinbaren sollen. Am Anfang sah es so aus. Aber nach ein paar Tagen brachen die gewohnten Zwistigkeiten, Egoismen und all das eitle Gezänk wieder durch. Warum? Weil sich jede Partei von den Pfründen der Ausgaben für Wiederaufbauarbeit profitieren möchte. Seit dem 11. März ist kein einziges Gesetzeswerk für den Wiederaufbau im Parlament durchgekommen, weil im Oberhaus die Opposition alles blockiert. Sie möchte mit dieser Methode Neuwahlen erzwingen und an die Macht kommen. Zugleich kann es sich die Regierungspartei nicht erlauben, die Opposition wegen ihrer bisherigen Atompolitik zu kritisieren, aus Furcht vor der weiteren Blockade durch Opposition. Die Nation hat diese Politik satt.
Die WELT: Anders als bei der Krisenhilfe der Amerikaner war die Hilfe der Deutschen eine zwiespältige Sache: Die Phase des Mitleids war kurz, jene der Besserwisserei - "Wie kann man AKWs an die Küste bauen?" - länger. Schnell ging es nur noch um die Atomausstieg-Kontroverse in Deutschland selbst.
Kenishi Michima: Es fiel ja in die Zeit vor zwei Landtagswahlen. Was mich schockierte war die von deutschen Freunden und Journalisten oft an mich gestellte Frage: "Warum verlassen Sie Japan nicht?". Es findet hier schließlich kein Krieg statt. Japan ist nicht Libyen. Unsere Regierung lässt nicht auf das eigene Volk schießen. Was jedoch bei uns passiert, ist ein struktureller Terror gegen das Volk, ein Regierungsterror, der, mit dem raschen Modernisierungsprozess verbunden, hier eine lange Geschichte hat.
Die WELT: Aber wenn man hört, dass Menschen aus Fukushima hoffen, sie könnten bald wieder heimkehren, fehlt da nicht ein wenig Angst, von der Deutschland zu viel hat?
Kenishi Michima: Es gibt in Japan nationale Fiktionen, an die sich vor allem die Staatstragenden klammern, zum Beispiel den territorialen Besitzanspruch auf die Südkurilen-Inselkette. Wir werden diese Inseln nie zurückbekommen, aber man darf nicht die Wahrheit sagen, man muss an diese Fiktion glauben. Ebenso wird jetzt an dem Mythos festgehalten, dass die von der Kernschmelze in Fukushima Vertriebenen im nächsten Jahr zurückkehren können. Als ein Berater des Premierministers aus Versehen preisgab, Naoto Kan habe gesagt, die Gegend werde auf 300 Jahre unbewohnbar sein, wurde der Berater massiv kritisiert und musste gehen. Dabei bin ich sicher, dass Kan genau das im internen Gespräch gesagt hat. Denn es ist die Wahrheit: Auf lange Zeit wird die Gegend unbewohnbar bleiben, sie ist verloren, aufgegeben, am Ende. Mindestens die Gegend im Radius von 30 Kilometer um die Reaktoren ist verloren. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen, um ein politisches Konzept zu entwickeln. Das scheuen unsere Politiker. Angst ist bei uns anders entwickelt als in Deutschland. In Deutschland wird mit logischer Zuspitzung Angst erzeugt. In Japan herrscht die Angst im Angesicht der nackten Realität vor, oder besser: die Angst davor, die Realität einzugestehen.
Die WELT: Es gibt Berichte, dass Evakuierten aus Fukushima - vor allem Kindern - anderswo in Japan mit Aberglauben und Hänselei begegnet wird. Das erinnert an die langjährige Diskriminierung der "hibakusha", der Strahlenopfer von Hiroshima und Nagasaki.
Kenishi Michima: Ich glaube nicht, dass Aberglaube hier wirkt oder dass der Vergleich mit "hibakusha" schon angemessen wäre. Zur Zeit überwiegt Solidarität mit den Opfern eindeutig. Vielleicht wird es mit der Diskriminierung in zehn Jahren virulent, wenn es etwa Krebserkrankungen in Familien aus Fukushima geben sollte. Dann kann es Probleme geben, richtige Diskriminierungen etwa bei Heiratswünschen. Die Japaner sind, trotz der Homogenitätsthese Meister der Diskriminierung und Distinktionen.
Die WELT: Es hat viel Lob und Bewunderung im Ausland gegeben für "das starke Volk" der Japaner nach dem Beben und dem Tsunami.
Kenishi Michima: Das ist lächerlich.
Die WELT: Ich gebe zu, dass ich selbst sehr bewegt war von der Gefasstheit und Würde der Opfer.
Kenishi Michima: Ich kann die Rezeption im Ausland bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen. Man muss aber die Wahrnehmung differenzieren. Am Anfang ist der Schock groß, wenn man Angehörige verliert, das Haus, den ganzen Besitz. Menschen sind gelähmt. Das wurde oft als Gefasstheit wahrgenommen. Und dann mussten sie in der Not Schlange stehen, wo es Wasser oder etwas zu Essen gab. Diese vom Schock gelähmte Stille, die kaum nach außen Gefühle verrät, gibt es überall in Krisenregionen, das ist keine japanische Eigenart. So wie es bei uns auch sehr wohl Plünderungen gab. In den Zeitungen wird nicht viel davon geschrieben. Diese 24-Stunden-Läden waren sowieso beschädigt, und dann gingen die Leute hinein und bedienten sich. Verglichen mit Krisen in armen Ländern muss man fairerweise aber auch sagen: gerade in den ersten Tagen nach Beben und Tsunami wussten die Menschen, die beinahe am Verhungern waren, dass die Hilfe irgendwann kommen würde. Das trug auch zu diesem Erscheinungsbild der Gefasstheit bei. Wenn die Menschen nicht sicher gewesen wären, dass das Essen sie erreichen würde, dass man nur diese Nacht durchstehen müsse, hätte doch die Verzweiflung um sich gegriffen.
Die WELT: Welche Art von Unterstützung würden Sie, der Deutschlandkenner, sich von den Deutschen erhoffen?
Kenishi Michima: Was mich nachdenklich stimmt, ist, wie relativ spät Spendenaktionen für Japan in Gang kamen. Man meinte wohl zum einen, Japan sei eben ein reiches Land, was auch stimmt. Doch Spenden über das Rote Kreuz kommen am Ende in die Hände der Betroffenen, nicht der Regierung. Die muss sich um Infrastukturschäden kümmern. Die private Not wird von privaten Spenden gelindert. Zum anderen starrten die Deutschen nach wenigen Stunden nur noch auf Fukushima. Die Opfer des Tsunami gerieten in den Hintergrund.
Die WELT: Sie haben jüngst in einem Aufsatz vor der Ausbeutung des Bebens durch populistische Politiker gewarnt. Wie würde diese Ausbeutung aussehen?
Kenishi Michima: Etwa durch die Verbreitung dieses Mythos', die Japaner seien stets eins und einig als Volk. Das stimmt ja nicht. Jeder vertritt die Interessen seiner Berufsgruppe wie in jeder modernen Gesellschaft. Um davon abzulenken und Debatten zu ersticken, wird die Parole verbreitet, wir seien so einmütig. Gestünde man ein, dass wir in Japan Interessenkonflikte haben wie überall sonst, müsste alles öffentlich und offen diskutiert werden. Das wollen unsere Parteien nicht. Viele Konflikte werden hinter verschlossenen Türen als deals unter den Bossen geregelt. Keiner ist bereit, große politische Themen in angemessener Form und im Interesse der Allgemeinheit und des Gemeinwohls zu diskutieren.
Die WELT: Wenn man mit Menschen in der Krisenregion spricht, hat man schon das Gefühl, dass sie entschlossen und auch bereit dazu sind, an das Gemeinwohl zu denken.
Kenishi Michima: Gewiss, aber nur in ihrem kleinen Kreis, innerhalb Ihres konkreten Alltagshorizonts. Wenn es um größere Debatten geht, beispielsweise um Progressivität vom Steuersatz, werden die Leute stur sein wie immer - wie Tepco selbst. Bei allem Erfindungsreichtum und aller Phantasie in der Not, die die Menschen zeigen, auf mittlere Sicht bin ich relativ skeptisch. Auch im Parlament sind Regierungspartei und Opposition nicht einig, nicht einmal über ein Gesetz zum Wiederaufbau. Es ist ein Nachtragshaushalt, durchgekommen mehr nicht. Sie haben irgendwo in der "Welt" geschrieben, dass die Politik in Japan schlimm sei - was auch stimmt - und dass sie das Volk unter Wert vertritt. Und dass die Leute von Tohoku mehr Phantasie und Stehvermögen und Geduld hätten. Auch das stimmt. Dabei hat vor ein paar Tagen ein Kabinettsminister gesagt - er ist Katholik und eng mit dem AKW-Betreiber Tepco verbunden -, er sehe im Geschehen in den Atommeilern vom 11. März "die Hand Gottes" am Werke. Niemand hat ihn dafür öffentlich kritisiert. In Deutschland müsste ein Politiker, der so etwas sagt, gehen. Oder nicht?
Die WELT: Ich hoffe, Sie haben Recht! Wenn wir in einem Jahr hier wieder zusammenkommen, was glauben Sie, was erhoffen Sie, wie wird dann der Stand der Dinge sein?
Kenishi Michima: Ich gebe nie Prognosen ab. Nennen wir es theoretische Möglichkeiten. Alles hängt davon ab, ob das AKW Fukushima planmäßig unter Kontrolle gebracht wird oder nicht. Wenn es unter Kontrolle ist, wird es business as usual sein. Die Öffentlichkeit in Japan ist vergesslich. Tepco und andere würden versuchen, wenigstens die AKWs zu Ende zu bauen, die lange geplant sind, oder die wegen Wartung vorübergehend vom Netz genommenen wieder in Betrieb zu nehmen. Wenn das Problem in Fukushima nicht gelöst ist, wird die Diskussion über den Ausstieg ziemlich intensiv sein. Aber Anti-Ausstieg-Diskurse, die schon kaum merklich angefangen haben, werden ihre Einflussnahme auf das Denken mit einem gewissen Erfolg fortsetzen.
Die WELT: Werden sich Japans Intellektuelle und Wissenschaftler in den Dienst des Wiederaufbaus stellen, etwa als Berater des Premierministers?
Kenishi Michima: Intellektuelle haben hier nicht viel Einfluss. Ich bin da skeptisch. Ein Leitartikler 1in einer Zeitung hat mehr Einfluss.
Die WELT: Die Macht der Bürokratie entfaltet sich selbst in den Evakuierungszentren. Man hat uns in zwei Zentren den Zutritt verweigert mit der Begründung, die Menschen wünschten keine Reporter zu sehen - doch gefragt hatte man sie nicht. Ist das nicht undemokratisch, entmündigend und anmaßend?
Kenishi Michima: Ja, das ist Paternalismus. In dieser Hinsicht ist Japan kein voll demokratisches Land, die politische Kultur ist noch schwach entwickelt. Alles wird auf Macht- und Zahlenverhältnisse reduziert. Darüber hinaus ist es eine Männerwelt. Und zum anderen sind diejenigen, die einen heißen Draht nach oben haben, stolz darauf und entmündigen die Menschen, die unter ihrem Schutz stehen. Andererseits muss man auch sehen, dass hinter oder unter diesen autoritären Strukturen viele phantasievolle zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse und Aktivitäten praktiziert werden. Nicht unbedingt als Widerstand gegen die Bürokratien, sondern in Gestalt selbstständiger, autonome Gruppen, die, zwar schwach organisiert, aber umso flexibler sind. Das beginnt bei dorfgemeinschaftlichem Helfen und geht bis zu NGOs.
Die WELT: Aber warum werden Medien ausgesperrt?
Kenishi Michima: Die Verantwortlichen wollen natürlich nicht, dass etwas ihrer Kontrolle entzogen wird. Dieser Paternalismus zeigt Reste der Vorkriegszeit, das Herabregieren vom Kaiser aus bis auf die unterste Ebene seiner Untertanen. Die Herrschaftsstrukturen der Meiji-Zeit haben zum Teil die Reform der Nachkriegszeit überlebt. Wir wissen, dass diese Mentalität langlebig ist. Der Politologe Masao Maruyama hat stets darauf hingewiesen ("Denken in Japan", Suhrkamp, Anm. d. Red.). Verantwortung geht zusammen mit Verboten. Die Leitung der Notunterkunft will nicht, dass Unangenehmes gesagt wird. Oft ist das gut gemeint, es sind gebildete Leute, die das tun. Aber sie sagen: Was ihr braucht, wissen wir besser. Fest steht für mich: solange sich an diesen Mythen und dem Paternalismus, der sie befördert, nichts ändert, werden japanische Behörden, japanische Ministerien in allen großen Notlagen so handeln, wie wir es jetzt erleben. Die sprichwörtlich gewordene Gefasstheit kann auf manche Ausländer, die das alte Japan romantisieren - Teezeremonien etwa -, aber uns bringt das nicht weiter. Gerade die Beschwörung der Samurai-Tradition ist nicht totzukriegen, leider auch in Japan selbst nicht.
Kenishi Michima: Der Leiter des AKWs in Fukushima, Yoshida, der offenbar technisch sehr viel kann und keine Anweisung vonseiten der Tepco-Zentrale abwartete, als er begann, mit Seewasser notzukühlen, wurde in japanischen Medien mit dem Herrn eines belagerten Schlosses verglichen: Er geht in den Flammen der Belagerer unter. Das sind heroisierende Metaphern aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die nur vom Eigentlichen ablenken.
Die WELT: Helden in Japan scheinen scheitern und sterben zu müssen, um sich das Prädikat zu verdienen.
Kenishi Michima: Das ist wahr. Yoshida ist unser Michael Kohlhass. Was aber unser Kohlhaas fordert, ist nicht das Recht, das geschehen sollte, auch wenn die Welt untergeht. Sondern dass das Volk seine Aufopferung, seine Hingabe anerkennt.