Des Pudels Kern
Seit Fukushima merkt die japanische Öffentlichkeit: Sie ist entmachtet. Der bedeutende japanische Philosoph Kenichi Mishima über die Lage seines Landes in der nuklearen Katastrophe.
© SAM YEH/AFP/Getty Images
An einem schönen Aprilsonntagnachmittag fand in einem der Subzentren der Megastadt Tokyo eine Anti-AKW-Demonstration statt, mit schätzungsweise 15.000 Teilnehmern. Viele junge Leute, auch Familien mit Kindern. Man sah auch Senioren, manchmal im Rollstuhl, zusammen mit ihrem Pflegepersonal. Nach einem Rock-Konzert setzte sich die Demonstration langsam in Bewegung. Viele humorvolle Plakate. Man las auch mal Deutsch: »Atomkraft? Nein Danke!« Die Stimmung war lustvoll und heiter, ein bisschen erinnerte sie an jene Kundgebung, die seinerzeit in den achtziger Jahren gegen den Nato-Doppelbeschluss im Bonner Hofgarten für Schlagzeilen gesorgt hatte.
Zum ersten Mal seit Jahren registriert man eine politische Demonstration, deren Teilnehmer Normalbürger sind, nicht wie so oft Berufsrevoluzzer, Autonome und Chaoten, deren Anblick und Kampfbereitschaft gegen die Polizei die meisten Bürger, auch wenn sie politisch elektrisiert waren, gerade nicht zum Mitmarschieren ermunterten. Diesmal marschierte ich mit – eben als Normalbürger.
Die radikale politische Linke in Japan war lange Zeit ein großes Hindernis gegen die Vitalisierung der politischen Öffentlichkeit. Seit dem Existenzialismus der fünfziger und der Studentenrevolute der späten sechziger Jahre haben wir eine lange Tradition, über die »bürgerliche Demokratie« zu schimpfen. Die »real existierende« Demokratie mit ihrer Praxis der Klientelbefriedigung und des lobbyorientierten Machtkampfs löste immer wieder eine tiefe Enttäuschung und ein Abwenden der Intellektuellen vom politischen Alltag aus. Nicht nur klassische Marxisten, sondern auch Anhänger der linken Postmoderne hatten für das Wort Demokratie nur ein Schmunzeln übrig. Nishitani Osamu, ein guter Freund von mir und einer der Vertreter des poststrukturalistischen Denkens, schrieb einmal – das war kurz nach dem Massaker in Peking und der Wende in den Ostblockländern – mit einem subversiven Ton, dass es keinen Unterschied mache, ob das politische Leben demokratisch organisiert sei oder nicht. Der linke Radikalismus wirkte als politische Apathie.
Die japanischen Medien meldeten die Demonstration nur kurz
Zurück zur Demonstration. In den japanischen Medien wurde diese Demonstration am frühen Abend flüchtig gemeldet, während etwa zehn Stunden später im Rahmen der deutschen Tagesschau aus Tokyo Bilder von Demonstrationszügen und Plakaten in den bundesdeutschen Wohnzimmern flimmerten, und zwar ziemlich extensiv. Der Kontrast sticht ins Auge. Handelt es sich bei der Zurückhaltung der Medien in Japan um eine Manipulation, gar um eine Selbstzensur? Zeigt das die allgemeine Akzeptanz der Atomkraft – trotz Fukushima?
Um 20 Uhr am gleichen Sonntagabend, ein paar Sekunden nach der Schließung der Wahllokale, meldeten alle Fernsehkanäle einen überwältigenden Sieg des amtierenden Gouverneurs von Tokyo bei den Gouverneurswahlen. Der notorisch chauvinistische Mann wurde in der vierten Amtszeit bestätigt. Ishihara, so sein Name, hat während des Wahlkampfes sein ehemals lautstarkes Bekenntnis zur Atomkraft zwar mit niedriger Tonstärke geäußert, aber nie zurückgenommen. Er steht jetzt für ein populistisches Wachrütteln der Japaner gegen die »Dekadenz« und für den Wiederaufbau. Wie bekomme ich die atomkritischen Wutausbrüche von Bürgern im Internet und den längst vorausgesagten Wahlsieg von Ishihara zusammen? Dazu noch das systematische Schweigen der inzwischen schon Tepco-kritisch gewordenen Medien über die Demonstration?
Natürlich gab es seit Langem mahnende Stimmen, die, gestützt auf die wissenschaftliche Expertise, auf die Gefahr eines Tsunamis und Stromausfalls am Atommeiler hinwiesen. Bereits im März 2006 hat der kommunistische Parlamentarier Hidekatsu Yoshii im parlamentarischen Etatausschuss – in unserem Nationaltag der wichtigste Ausschuss, wo entscheidende Debatten über den politischen Kurs stattfinden – angefragt, was passieren würde, wenn bei einer großen Ebbe, wie sie oft vor einer Tsunamiflut auftritt, kein Kühlwasser mehr aus dem Meer gesaugt werden könnte. Yoshii, selber ein studierter Atomingenieur, hat neben der Tsunamigefahr unter anderem auch auf die Möglichkeit eines totalen Stromausfalls hingewiesen und vor der Gefahr einer Wasserstoffexplosion und der Kernschmelze gewarnt.
Auch Katsuhiko Ishibashi, Professor emeritus der Universität Kobe, ein angesehener Erdbebenforscher, gleichzeitig Experte für Katastrophenmanagement, hat aufgrund seines Fachwissens seit mehr als zehn Jahren ständig seine mahnende Stimme erhoben. Der Titel eines bereits im Oktober 1997 erschienenen, in einer auch für Laien verständlichen Sprache geschriebenen Essays lautet: Erdbebenkatastrophe – zur Vermeidung eines atomaren Desasters. Er liest sich wie eine minutiöse Rekonstruktion beziehungsweise eine von der Hand Gottes geschriebene Voraussage dessen, was in den Tagen nach dem 11. März als Folge einer Tsunamiflut an einem der Atommeiler tatsächlich geschah. Bis in kleinste Details stimmt seine Beschreibung mit den Vorgängen, die durch die Weltöffentlichkeit gegangen sind, überein. Der Essay erschien in einer populärwissenschaftlichen – das Wort ist hier im positiven Sinne zu verstehen – Zeitschrift des angesehenen Iwanami-Verlags, unseres Pendants zum Suhrkamp Verlag. Prof. Ishibashi kämpfte in einem Unterausschuss zur Reaktorsicherheit für die Aufstockung der Schutzdeiche. Als er feststellte, dass seine Meinung vor den Betonköpfen der anderen Ausschussmitglieder, das heißt vor der ökonomischen Kalkulation, keine Chance hatte, gab er seinen Sitz im Ausschuss auf. Ich hoffe, dass nun der Rücktritt von Professor Toshiso Kosako als Sonderberater des Ministerpräsidenten für Radioaktivitätsprobleme nicht bloße Fortsetzung dieser Tradition des resignativen Widerstands ist.
Solche wissenschaftlich fundierten Äußerungen von Besorgnissen hat es viele gegeben. Den Argumenten wurde aber kein Gehör geschenkt. So wie sich der Primat der systemischen Bestandserhaltung vor der systemimmanenten Kritik behauptete, siegte auch das Profitinteresse über die Sicherheit. Doch es ging noch darüber hinaus: Nicht nur haben die Wissenschaftler auf einflussreichen Lehrstühlen an renommierten Universitäten, die in den wichtigen Gremien sitzen, erwähnte kritische Stimmen von Fachkollegen in den Wind geschlagen. Sie haben die jüngeren Kollegen, die gegen Einzelteile von AKWs oder überhaupt gegen AKWs Bedenken äußerten, systematisch marginalisiert. Viele von diesen, die sich jetzt per Internet mit ihren alten Untersuchungen gegen die Atomkraft melden, sitzen mit 60 immer noch auf einer Assistentenstelle. Sie haben praktisch aufgrund ihres wissenschaftlichen Gewissens große Nachteile für ihre Karriere, damit auch für ihre Familien in Kauf genommen.
Dabei sind seit Jahrzehnten ganze Regale voll an Büchern gegen die AKWs geschrieben worden. In jeder mittelgroßen Stadtbücherei befindet sich so viel Antiatomliteratur, nicht nur über Hiroshima und Nagasaki, sondern Bücher mit gediegener kritischer Analyse des Risikos, das man bewusst oder unbewusst mit der atomaren Energiegewinnung eingeht. Ich nenne nur einen von mir bewunderten Autor, Jinzaburo Takagi (http://cnic.jp/takagi/english/, www.rightlivelihood.org/takagi.html), der nach einem Senkrechtstart als vielversprechender Atomwissenschaftler (in den frühen siebziger Jahren war er ein Gastforscher am MPI für Kernphysik) früh der Atomzunft den Rücken kehrte und in einem selbst gegründeten zivilgesellschaftlichen Forschungsinstitut mit seiner Kompetenz unermüdliche Aufklärungsarbeit leistete. In der Stadtbücherei in meiner Nähe sind 33 Titel von ihm registriert.
Allerdings muss man sich mit Nüchternheit der Erkenntnis stellen: Bei aller internationalen Anerkennung, die Takagi am Ende seines Lebens genießen durfte, blieb er in der Kryptoöffentlichkeit hängen. Trotz ihrer Verbreitung haftet seinen Büchern der Charakter eines Samisdats an. Eine Wirkung, wie sie Holger Strohm mit seinem Buch Friedlich in die Katastrophe (1973) erzielen konnte, hat er nicht erreichen können. Der Effekt war hier in Japan die Bildung einer Art Anti-Club. Die Mitglieder treffen sich und feiern im Schulterschluss gegenseitig ihre Anti-Mentalität. Diesem Club steht ein gewaltiges Konglomerat von Atomindustrie, Wissenschaft, Politik und Gewerkschaft gegenüber. Das Konglomerat nennt sich kokett Atomdorf. Der Club der Gegner hat gegen das Dorf keine Chance. Während sowohl Holger Strohm als auch Klaus Traube mit dem Verdienstorden beziehungsweise dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurden, denkt unser Staat nicht daran, die ewigen Protestler, unangenehme Sandkörner im Getriebe, mit Orden zu ehren. Sie sind für den Staat bedauerliche, entgleiste Existenzen.
Nun stellt sich eine Frage: Warum ist es möglich in einer freien liberalen Gesellschaft, dass ein so bedeutender Autor wie Takagi – und er ist nicht der Einzige in diesem Zirkel – so systematisch ignoriert wird, dass überhaupt die an sich nicht so leisen Stimmen der AKW-Gegner und Zweifler an den Rand des Meinungsspektrums gedrängt wurden?
Tepco verfügt nach einer glaubwürdigen Untersuchung für die Öffentlichkeitsarbeit pro Jahr über eine Summe von annähernd einer Milliarde Euro, übertroffen nur von weltweit agierenden Firmen wie Toyota und Panasonic. Eine wahrlich erstaunliche Summe, vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich bei Tepco um eine De-facto-Monopolgesellschaft handelt. Vom Absatzvolumen her gesehen, ist sie einsame Spitze unter allen zehn regionalen stromproduzierenden Monopolunternehmen. Außerdem hat Tepco an prominente Universitäten, allen voran an die Universität Tokyo, zur Gründung von Lehrstühlen viel Geld gespendet, und zwar nicht nur von Lehrstühlen für Reaktortechnik, sondern auch zur Auswertung der Folgewirkungen von technischen Desastern. Warum treibt eine Monopolfirma derartigen finanziellen Aufwand für Werbeaktionen? Es geht vorrangig darum, die Akzeptanz für Atomenergie zu steigern.Es lassen sich viele Faktoren nennen: die Entpolitisierung der Jugend als Katzenjammer der politischen sechziger und siebziger Jahre, die ständige Befriedung der sozialen Konflikte durch ein vielfältiges Angebot an Konsumgenuss, die enorme Belastung durch Arbeit in der neoliberalen Intensivierung der Konkurrenz mit der Folge eines beschränkten Interesses an der öffentlichen Diskussion und vieles andere mehr. Hier möchte ich aber einen Aspekt aufgreifen, nämlich die Entmachtung der Öffentlichkeit durch die Öffentlichkeitsarbeit der Tepco.
In TV-Werbespots werben prominente Sportler, Schauspieler und Talkshowmenschen für die Sicherheit der Atomenergie. Sie sprechen auch von weniger CO₂-Ausstoß aus den Reaktoren als aus den konventionellen Stromerzeugungsmitteln, offensichtlich gegen astronomische Gagen. Große Zeitungen und Fernsehstationen sind inzwischen von den Einnahmen aus den Reklamekosten der Stromfirmen abhängig. In den Medien lassen sich AKW-kritische Dokumentationen schwer unterbringen beziehungsweise durchsetzen. Schon in der Planungsphase klingelt in der obersten Etage der Fernsehstation ein Telefon. Am anderen Ende der Strippe droht ein Tepco-Manager mit dem Rückzug von sämtlichem Sponsoring. Aus nachvollziehbaren Gründen hat nicht jeder Fernsehmanager Rückgrat. Das gilt, wenngleich in abgeschwächtem Maße, auch für die Presse. Presse- und Medienfreiheit ist garantiert. Japan ist ja schließlich ein moderner Verfassungsstaat. Aber die Unabhängigkeit von Medien und Presse lässt sich letztlich mit der Klausel der Redefreiheit nicht garantieren.
Wissenschaftler an prominenten Universitäten wurden oft zu verschiedenen Aufklärungsveranstaltungen der Tepco eingeladen mit unglaublich hohen Honoraren. Viele Politiker boten, wenn sie gerade in strukturschwachen Gegenden ihre Wahlkreise haben, diese entlegene Region als möglichen Standort von Atommeilern an. Dazu kommt die mächtige Gewerkschaft der Strom- und Elektroindustrie. Auch nach dem Desaster bekam ein Parlamentarier der regierenden Demokratischen Partei, als er einen Arbeitskreis über die Zukunft der atomaren Energie gründen wollte, von einem Gewerkschaftsboss einen Anruf. Als der Boss signalisierte, dass so etwas nicht ganz den Interessen der arbeitenden Bevölkerung entspreche, wurden dem kleinen Parlamentarier schon die Knie weich. Die in der Kryptoöffentlichkeit prominenten Theoretiker und Kritiker kommen in der Medienöffentlichkeit so gut wie nie zum Zuge. Die Bücher von Takagi konnten nur unauffällig in wichtigen Zeitungen rezensiert werden.
So funktioniert die Entmachtung der Öffentlichkeit. So geht in Japan die von Jürgen Habermas vor inzwischen beinahe 30 Jahren so benannte Kolonisierung der Lebenswelt durch Administration und Wirtschaft vonstatten. Legal und doch korrupt, gerichtsfest und doch kriminell ist die atomare Interessengemeinschaft, ein struktureller Dauerterror gegen das eigene Volk. Und in diesem lecksicheren atomaren Mafiosentum hat sich im Laufe der Dekaden der Sicherheitsmythos herausgebildet, immer glaubwürdiger dargestellt. Es ist viel Zynismus im Spiel. Jedoch gab es ein Leck. Der Zynismus selber ist dem naiven Sicherheitsmythos anheimgefallen, sodass die Manager selbst das Risiko verdrängt haben. Das unsägliche Resultat, das ohne Erdbeben zunächst latent geblieben wäre, kennen wir alle.
Zum Mythos gehört auch der 30-Prozent-Anteil der atomaren Energie in der gesamten Energieversorgung. 30 Prozent gilt nur für die paar heißesten Sommertage, auch unter der Voraussetzung, dass die inzwischen zugunsten der Atommeiler stillgelegten Kohle- und Erdgaskraftwerke nicht arbeiten. Jetzt werden die meisten von ihnen schnell wieder instand gesetzt (technisch effizientes Japan!), sodass wir diesen Sommer mit einer vernünftigen Reduzierung des Stromverbrauchs durchkommen.
Die Zustimmung zur Atomkraft ist nun brüchig. Endet die Apathie?
Zurzeit werden im Fernsehen statt Werbespots stets Durchhalteparolen wiederholt, von prominenten Schauspielern oder Sportlern, darunter Fußballer, die auch in Europa bekannt sind. Die Parolen lauten etwa: »Japan, halte durch!«, »Japaner, rafft euch auf!«, »Gemeinsam sind wir Japaner stark«. Meine Sorge gilt weniger dem Nationalismus, der damit durchaus verbunden sein kann, als vielmehr dem Phänomen, dass damit eine thematische Ablenkung stattfindet.
Die Leute wollen die Struktur der Atomlobby, die Verschlingung der Atomindustrie mit der Politik, das dahintersteckende Profit- und Machtinteresse nicht unbedingt durchschauen. Oder besser: Sie durchschauen die Struktur schon, wollen aber ihre Erkenntnis nicht verbalisieren, nicht in Proteststimmen übertragen. Die Akzeptanz der Atomenergie ist brüchig geworden. Aber noch bleibt die japanische Öffentlichkeit bei emotionalen Ausbrüchen und deren populistischer Instrumentalisierung stehen. Es bedarf eines mühsamen und langwierigen Prozesses, in dem die entmachtete Öffentlichkeit ihre potenzielle kommunikative Macht zurückgewinnt und sich auf diverse Weisen artikuliert.Und diese nationalen Parolen – dazu noch Parolen wie »Leute! Seid nett zueinander!« – werden finanziert vom AC Japan. AC ist die Abkürzung für Advertising Council, ein Zusammenschluss von wichtigen Firmen. Eine Art von Versicherungsgesellschaft für Fernsehsponsoren. Sie zahlt für Werbespots vor allem für den Fall, dass eine Firma ihre Werbespots zurücknehmen muss, sei es aus Gründen wie Konkurs oder wegen Enthüllungen zur schlechten Qualität ihrer Produkte (www.ad-c.or.jp/eng/). Und im Vorstand dieser AC Japan sitzen die Vertreter von großen Energieversorgungsgesellschaften wie Tepco. Damit haben wir des Pudels Kern.
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